06.06.2006

Pulverdampf wird unser neues Parfum

HBO trifft zwischen die Augen ins Hirn – Deadwood

Fernsehmuseum: Erinnerungen an das gute TV

Der Western, seit Jahrzehnten immer wieder totgesagt und immer wieder reanimiert, kriecht erneut unter seinem knorrigen sonnengebleichten Kreuz am Boot Hill hervor, um allen zu zeigen, dass er, goddammit!, immer noch genug Mumm in den Knochen hat, um der Beste zu sein unter den Gründungsmythen der Welt.

Was macht ihn so unverwüstlich? Einfachheit, Klarheit, Abstraktion?
Sofortige Überschaubarkeit von Charakteren und Kontext?
Die Abbildung eines einmaligen historischen Moments?

Betrachten wir diese 50-Jahres-Spanne zwischen 1840 und 1890, in der etwa 95 Prozent aller Western angesiedelt sind, einmal genauer. Es ist die Zeit des Westward Ho!, der Landnahme durch weiße Siedler. Haben sich deren Vorfahren noch 300 Jahre lang an der Nabelschnur ihrer Mutterländer an der Ostküste Amerikas aufgehalten, so beginnt mit der Gründung der Vereinigten Staaten eine langsame Bewegung Richtung Westen. Noch bestehen die Siedlungen im Osten aus geschlossenen Gemeinden, die ihre sozialen Kodizes aus Europa importiert haben. Mit zunehmender Enge und immer größeren Einwanderungsströmen beschleunigt sich das Vordringen in das große Vakuum im Westen. Die Ureinwohner werden verdrängt und das weite Land Stück für Stück abgesteckt und als neuer Bundesstaat der Union einverleibt. Es bilden sich Siedlungszusammenballungen an Stellen, die besonders fruchtbar sind oder sich durch andere Vorteile wie Rohstoffreichtum auszeichnen. Diese unterscheiden sich in ihrer sozialen Zusammensetzung meist grundlegend von denen im Osten. Es sind eine Vielzahl von Nationalitäten vertreten, die bei der Gründung ihrer neuen Existenz aufeinander angewiesen sind, und deshalb schlussendlich auch darauf, ihre alte Identität abzulegen. Hier werden erstmals Amerikaner geboren.

Mit eben dieser Gründungsphase beschäftigt sich die Fernsehserie Deadwood. North Dakota Territory. Es ist das Jahr 1876. General Custer wurde vernichtend am Little Big Horn geschlagen und ganz in der Nähe hat sich ein schmutziges kleines Goldgräber- und Outlawcamp festgesetzt: Deadwood. North Dakota ist noch kein Unionsstaat und deshalb keinerlei Gesetzen unterworfen. Hier herrscht noch das Recht des Stärkeren. Erfolgreich ist in Deadwood, wer die Mittel besitzt, um seine Interessen durchsetzen zu können. Dass hier nicht reine Anarchie herrscht, liegt einzig an den rein egoistischen wirtschaftlichen Interessen des Saloonbesitzers Al Svearangen, dessen Schergen dafür sorgen, dass Unruhestifter den Schweinen zum Fraß vorgeworfen werden.

In dieses schlammbraune Idyll dringen nach und nach immer mehr Neusiedler ein. Die Stadt wächst. Ein zweiter Saloon wird eröffnet, ein Lazarett muss wegen einer Pockenepidemie eröffnet werden, die Union will sich North Dakota einverleiben und es sollen Gesetze eingeführt werden.

Deadwood ist ein Musterbeispiel für ein soziales Experiment: aus einer desperaten Zusammenrottung von Individuen entwickelt sich allmählich eine mehr oder weniger funktionierende Gemeinschaft. Ein überaus komplexes Beziehungsgeflecht zwischen einer Vielzahl von Protagonisten sorgt für fatale oder Segen bringende Entwicklungen. Gegnerische Parteien müssen koalieren, um Probleme in den Griff zu bekommen. Immer wieder muss zwischen Eigen- und Gemeinschaftsinteressen abgewogen werden. Wer am Anfang noch als positive Figur erscheint, wird sich im Laufe der Serie die Finger schmutzig gemacht haben; und wer anfänglich als abgrundtief böse erscheint, entwickelt mit der Zeit auch menschliche Züge. Sogar der Mörder erhält seinen berechtigten Platz in der Gemeinschaft.

Misst man die Serie Deadwood an einem Klassiker des Westerngenres, »Der Mann, der Liberty Valance erschoß« (R.: John Ford, 1962), so sticht folgendes ins Auge:

»Liberty Valance« demontierte 1962 erstmals den Mythos von Law and Order, die von Washington ausgehend das anarchistische Treiben im Westen unter Kontrolle brachten, und rückte die Männer (in diesem Fall natürlich, wer sonst, John Wayne) in den Fokus des Interesses, die aus einem selbst erworbenen Gerechtigkeitssinn halfen, dass Recht und Ordnung Fuß fassen und ein Sieg über das Outlawtum errungen werden konnte.

Deadwood hingegen entwickelt ein komplett anderes Bild: hier sind Verbrechen, rein ökonomisches Interesse, Egoismus, aber auch Idealismus und Nächstenliebe, von Anfang an integrale Bestandteile einer sich langsam herausbildenden Gesellschaft. Es wird hier kein Sieg über den bösen Outlaw errungen, sondern der Outlaw wird durch äußere Umstände dazu gezwungen, an der Gestaltung der Gesetze selbst mitzuwirken, wobei er natürlich stets seine egoistischen Interessen zu verteidigen sucht.

Deadwood ist also weniger „Westernserie“ im klassischen Sinne als episch ausgelegte Grundlagenforschung zur Entstehung der heutigen Gesellschaft in Amerika, und anderswo, aber in erster Linie natürlich spannende Unterhaltung.

Wir zeigen die ersten beiden Folgen (Folge 1, Regie: Walter Hill).