Die Jahre sind ins Land gegangen und so, wie der Palast der Republik bald ganz verschwunden ist, hat sich ein ganzes Land scheinbar verflüchtigt. Im Alltag schließen die Menschen, die dort gelebt haben, ihre Erinnerungen an diese Zeit in sich ein. Auf medialer Ebene gibt es gewisse kleine Fenster – wahlweise Streichelzoos der Nostalgie und Betroffenheit oder talkshow- bzw. spiegeltvreife Dauerproblemfälle –, in denen der Osten noch Osten ist. Und genau mit diesen kleinen Fensterchen für die Anwesenheit der Vergangenheit in der Gegenwart beschäftigt sich die Soziale Skulptur des Fernsehfriedhof.de. Das wird garantiert Super Illu-ster!
Es musste ja so kommen: Irgendwann waren die wilden Feiertage der Wiedervereinigung vorbei. Der Alltag kehrte in die Beziehung ein. Und Alltag – das ist Arbeit. Im fünften Kapitel der Betrachtungen über den televisionären Wessifizierungsprozess wirft die Soziale Plastik des Fernsehfriedhof.de einen genaueren Blick auf die flimmernde Einführung des neuen Menschenmaterials in die Arbeitswelt des Kapitalismus.
Als Gast begrüßen wir live einen echten Chemnitzer – den Helden, der einer ganzen Generation sächsischer Abiturienten das Studium in den alten Bundesländern ermöglichte! Nötig war dazu eine formale Änderung, die aber nur mit der (damals noch) unendlichen Macht des Fernsehens in diesem Tempo durchgesetzt werden konnte.
Nachdem sich die Soziale Plastik des Fernsehfriedhof.de vor allem mit den materiellen Dimensionen der Emulsion von Ost und West beschäftigt hat, wollen wir uns nun einmal ganz um die Menschen kümmern, allen voran: die einsamen Menschen. Bereits im DFF, dem Nachfolger des DDR-Fernsehens, ist noch während der Wendezeit eine Sendung entwickelt worden, die einsame Herzen zusammenbringen sollte: Je t’aime – Wer mit Wem? Derartige Kuppel-Shows gab und gibt es im Fernsehen immer wieder. Die durchaus bittere Ironie, dass jenes Medium, das die soziale Isolierung des Individuums vorangetrieben hatte wie (zumindest bis dato) kein anderes zuvor, immer wieder genutzt wird, um diese Vereinsamung aufzubrechen, gebiert in jedem TV-Format seine eigene Tragikomik. Was sich jedoch konkret in dieser analogen Dating-App abspielt, ist absolut einmalig, erschütternd und faszinierend zugleich. Es werden ggf. extra weiche Speitüten gereicht, deren flauschige Außenoberfläche mehr Tränen aufsaugen kann als eine Pampers.
Im Jahr 1994 war die gröbste Arbeit getan – die neuen Bundesbürger hatten mittlerweile ihre „echten“ Jeans am Knie durchgescheuert, unter Anleitung von West-Fernsehköchen ihre erste Kiwi unfallfrei geschält und auch bereits ihren ersten Prozess gegen eine betrügerische Zeitschriften-Abo-Firma oder ein windiges Fassadenrenovierungsunternehmen zwar gewonnen, aber ihr Geld natürlich nicht zurückbekommen. So langsam war man also im Westen angekommen. Aber was nun tun mit der neuen Freiheit? Die Soziale Plastik Fernsehfriedhof.de zeigt in dieser Sitzung die Antwort, die das Westfernsehen darauf gegeben hat: Man kann zum Beispiel eine große Fernsehshow als Moderator/Quizmaster leiten! Und wer könnte dafür besser geeignet sein als Wolfgang „Lippi“ Lippert?! Auf jeden Fall war wohl keiner besser geeignet, sich die Demütigungen gefallen zu lassen, die man sich auf dem Lerchenberg für ihn ausgedacht hatte.
Sehr treffend, dass es bei dieser Show damals noch hieß: „zugunsten der ,Aktion Sorgenkind‘“ …
Diese Soziale Plastik FERNSEHFRIEDHOF.DE befasst sich mit einer weiteren televisionären Nebenwirkung des in jeder Form eindringenden Westens in den Osten. Eben auch in Form von Betrügern und Dieben, die ihren Kenntnisvorsprung gegenüber den Neubundesbürgern ausnutzen. Das ruft Eduard Zimmermann auf den Plan und er recycelt das Archiv seines seit 1963 laufenden „Nepper, Schlepper, Bauernfänger“-Warnmagazins für ein 13-teiliges „Best of Vorsicht Falle“ auf dem DFF. Fast parallel geht auch Kripo Live auf Sendung und macht ebenfalls unmissverständlich klar, dass die neue Konsumfreiheit nicht umsonst zu haben ist.
30 Jahre „Wende“ – eine Generation ist vergangen … Die Soziale Plastik FERNSEHFRIEDHOF.DE nimmt dies als Anlass für eine Reise zurück zu den Anfängen, als gewiefte Marktwirtschaftshasardeure den passiven Planwirtschaftsaktivisten gezeigt haben, woher der Wind weht. Aber wie sollten die armen, unerfahrenen Zonis da ahnen, dass sie sich mit der D-Mark neben Echtpelzkrägen, Autos und Fernreisen auch jede Menge Ärger, Müll und menschliche Niedertracht einhandeln?! Tutorials auf YouTube gab es noch nicht – und so schlug noch einmal die Stunde des Fernsehens, das die Neu-Bundesbürger an die Hand nahm, ihnen zeigte, wie man Kiwis richtig isst, warum man aufpassen muss bei Unterzeichnung von Verträgen und wie man sich am Strand richtig anzieht. Oder das magische Auge erzählte zum Einschlafen über den Kreditraten-Plänen wundervolle Märchen – zum Beispiel wie ein Ossi sogar mal eine West-Fernsehshow leiten darf! Pures Fernsehgold! Und genau das wird die Soziale Plastik FERNSEHFRIEDHOF.DE in den nächsten Sitzungen wieder funkeln lassen …
Der einstmals stramme Zapp-Daumen schwengelt von galoppierender Atrophie völlig erschlafft an der Hand. Es gibt ja auch keinen Grund zum Zappen, wenn das Gerät eh nicht mehr eingeschaltet wird. Und für einen der ganz wenigen Restfetzen von interessantem Fernsehen gibt es zum Glück Timer in den digitalen Aufzeichnungsgeräten, EPGs und bestimmt über 2.000 Apps, die dafür sorgen, dass diese wenigen Sendungen nicht ungesehen ins Weltall rausstrahlen.
Nahe der innerdeutschen Grenze zu wohnen, war der Zauberschlüssel, um in einen Zustand zu gelangen, der heute nur durch lange Meditation oder Instant-Nirwana-Medikamente erreichbar ist. Dort zu wohnen bedeutete, dass man mit einem kleinen Daumendruck auf der TV-Fernbedienung zwischen zwei televisionären Parallelwelten hin- und herschalten konnte. Ein heute fast unvorstellbarer Luxus, der seine Genießer auf ewig für die fade, braune Bettelsuppe des herrschenden Fernseheinerleis verderben sollte. Um den Besuchern der Sozialen Plastik des Fernsehmuseums eine vage Idee von der bewusstseinsverändernden Wirkung besonders der Arbeiter-und-Bauern- Sphärenschätze zu geben, die da über den Todesstreifen in den Westen waberten, zeigen wir ausgewählte Stücke aus dem DDR-Fernsehen:
Der Sonntagvormittag gehörte Addi und seinen Kumpanen – den Schülern polytechnischer Schulen der klassenlosen Gesellschaft – die sich hier klassenweise zum Messen ihrer Kräfte trafen. Mach mit, mach's nach, mach's besser war ihr Motto, das nach der Wende bald niemand mehr in den Mund nahm. Das Fernsehmuseum zeigt eine der letzten Ausgaben dieses Turnbeutel-Klassikers, die wie Magnesiumkalk auf der Zunge liegt. In einem verzweifelten Versuch, die Wiedervereinigung auch in den Turnhallen nachzuspielen, kam es zum Wettkampf zwischen Grevesmühlen und Bad Segeberg. Dass da der Chefindianer der DDR nicht fehlen darf – Gojko Mitic – ist selbstverständlich.
Von Knisterpolyester-Adi wollen wir hier lieber gar nicht reden…
Im Anschluss nach diesem unerlaubten Barren der Zuschauer gibt die Kinder-Phantasie-Anregungssendung Wie wär's Tipps, wie man sozialistische Fotos macht.
1999
Das Fernsehmuseum als Soziale Plastik im Lichtmesz-Kino, Hamburg
Zum Gedenken an den zehnten Jahrestag des Verschwindens eines ganzen Landes und seiner Fernsehkultur veranstaltet die Gruppe eine Feierstunde im Lichtmesz-Kino, Hamburg, unter dem Titel: »Das Spalier der Lebensfreude«*. Am 3. Oktober 1999 werden nach dem kollektiven Anschauen der 1.-Mai-Parade von 1989 die wertvollsten Mitschnitte aus dem reproducts-Archiv dem Publikum vorgestellt. Darunter diverse Folgen der Aktuellen Kamera, der Nudelkochkurs der Kindersendung Wie wär's, Mach mit, mach's nach, mach's besser und selbstverständlich der Klassiker English For You mit den Folgen »Preparing a Demonstration« und »Karl Marx in London«.
*der TV-Kommentator von DDR 1 über die 1.-Mai-Parade in Ostberlin angesichts der über die Karl-Marx-Allee strömenden Massen der Werktätigen
Nur der tiefe Glaube an die Möglichkeit des Unmöglichen kann einen
Menschen veranlassen, bei Windstille einen Drachen steigen zu lassen
Im Jahr 1997 bricht eine neue Ära an: Das Stichwort heißt „Diversifikation“. Die Materialflut reißt nicht ab und das Archiv platzt aus allen Nähten. reproducts erlaubt von nun an ausgewählten Personen, das Archiv zu nutzen und eigene Produkte zu fertigen. Zwei Früchte dieser Öffnung sind der strukturelle Kurzfilm des jungen Fernstudenten Klaus Bosseck aus Bitterfeld mit dem Titel »Der lange Marsch« und das Musikvideo »I wie Ikarus« von Frank Rudek, Regieassistent aus Fürstenfeldbruck.
1996
Video, 4 Minuten
Regie: Guido S. Weihermüller
Kamera/Licht: Hilmar Mehnert
Schnitt: Jochen Carl Müller
Buch: Falk Klennert aka Felix Kubin
Im Sommer 1996 hofft die Liedertafel Margot Honecker mit der Erstellung eines professionellen Musikvideos, einen Wundbrand am Hirnstumpf westlicher Popmusik auszulösen. Mitglieder von reproducts bekunden ihre Solidarität mit diesem Vorhaben, indem sie als Darsteller in dem Clip »Vowärts, Freie Deutsche Jugend!« auftreten.